Zwanzig Zwanzig [Betrachtungen]
Das Leben wurde zu einer Art Raum, ein Zufluchtsort, den ich mit relativer Sicherheit tapezierte, mit einer distanzierten Gelassenheit einrichtete und aus dessen weiten Fenstern ich das Geschehen dieser anderen Zeit fragend und empfänglich beobachtete.
Es ist der Tag, an dem sich alles verändert, an dem mir erstmals richtig bewusst wird, wie ernst die Lage ist und wie ernst sie noch werden kann. Es ist Abend und wir sind auf dem Weg in die Süd-vorstadt zur Aufführung „Ich, Judas – einer von euch wird mich verraten“, die in der Peterskirche stattfindet. Die Karten hatte Angelika bereits vor einigen Tagen gekauft. Den ganzen Tag schauten wir im Internet, ob auch diese Veranstaltung, wie viele andere in diesen Tagen, bereits abgesagt...
Am Morgen erfahren wir aus dem Internet, dass die Thomaskirche als scheinbar einzige aller Leipziger Kirchen, zumindest von denen im Innenstadtbereich, noch einen öffentlichen Gottesdienst durchführt, allerdings mit der Einschränkung, nur noch einhundert Menschen Einlass gewähren zu können. Eine andere Nachricht aus dem Netz verrät uns, dass aber die meisten Kirchen den ganzen Tag offen seien für individuelle Gebete. Seelsorger ständen ebenfalls zur Verfügung.
In den Morgennachrichten erneut die Warnung eines Experten, eine Warnung wie viele Warnungen schon in den Tagen zuvor. Warnungen, die die üblichen Schlagwörter dieser Zeit enthalten. Aufpassen, weiterhin, zuhause, bleiben, keine, Besuche, durch, müssen, wir, Zahlen, steigen, weiter, an, zusammen, halten ... Auf über einhunderttausend Infizierte hat es die Statistik allein in Deutschland bisher geschafft. Geschafft – wirken fast alle auf irgendeine Art und Weise ..
tauche, sprach er
tauche
ein
entdecke tausend farben ...
abgezehrt
die große stadt ist alle
menschen weichen voreinander aus
gut so
keine begegnung
auch nicht mit worten
kein grüßen
enge blicke
gut so? frage ich mich ...
wer hat dich gelassen verlassen
so einsam hinterlassen
in dem sand, der die küste ernährt
war es kitsch oder steckte dahinter
neben meer auch mehr ...
der sommer keuchte unter meinen sandalen
während ich kühn ins blaue schoss
forsch mit aufgespreizten sinnen
die zerstreuten blätter einstiger blüten
in meinem blick ...
gleißendes licht brennt in den poren
konturenhaft der ölberg in der ferne
umringt im und vom weiten getöse
„hosanna
hosanna in der höhe, da kommt er
hosanna“
es schallt um mich herum ...
ehrfürchtig
mein blick zu dir
gewaltig
dein blick zu mir
und du ...